St. Michaelskirche München
Sonntag, 18. Februar 2001 (7. Sonntag im Jahreskreis C)
Prediger: P. Gerd Haeffner SJ

Über die „Feindesliebe"

„In jener Zeit sprach Jesus zu seinen Jüngern: Euch, die ihr mir zuhört, sage ich: liebt eure Feinde. Tut denen Gutes, die euch hassen, segnet die, die euch verfluchen, betet für die, die euch misshandeln. Dem, der dich auf die eine Wange schlägt, halte auch die andere hin, und dem, der dir den Mantel wegnimmt, lass auch das Hemd. Gib dem, der dich bittet, und wenn dir jemand etwas wegnimmt, verlang es nicht zurück. Was ihr von anderen erwartet, das tut ebenso auch ihnen. Wenn ihr nur die liebt, die euch lieben, welchen Dank erwartet ihr dafür? Auch die Sünder lieben die, von denen sie geliebt werden.

Ihr aber sollt eure Feinde lieben und sollt Gutes tun und leihen, auch wo ihr nichts dafür erhoffen könnt. Dann wird euer Lohn groß sein und ihr werdet Söhne des Höchsten sein, denn auch er ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen. Seid barmherzig, wie es auch euer Vater ist." (Lukas 6, 27-38)

Es gibt eine indische Legende von einem Asketen, der im Wald lebte. Er hatte mit allen Wesen Mitleid. Er schadete niemandem. Er aß nicht das Fleisch von Tieren. Er half den Menschen, die zu ihm kamen, und als er eines Nachts einen Tiger erbärmlich vor Hunger schreien hörte, ging er hinaus und ließ sich von ihm aus Mitleid auffressen.

An diese Geschichte wurde ich erinnert beim Lesen der Worte Jesu, die uns heute vorgetragen werden. Ist das etwas Ähnliches – oder ist es etwas Anderes? Ist das nur etwas zum Erschrecken und Bewundern oder ist das auch etwas zum Ernstnehmen? Denn es ist eine wunderbare Methode mit dem Bewundern. Sie hilft einem, etwas nicht ernst nehmen zu müssen. Und wenn Jesus etwas sagt, werden wir uns natürlich hüten, daran Kritik zu üben, und wir werden uns hüten, es ernst zu nehmen.

Was ist gemeint? Ignatius sagt einmal, die Heilige Schrift setze voraus, dass wir Verstand haben, wenn wir sie lesen. Da ist die Rede von Feinden und Freunden und dazwischen gibt es offenbar nichts. Da ist die Rede vom Lieben und vom Hassen und dazwischen gibt es offenbar nichts. Da spricht der alte Orient mit seinen extremen Worten und seinen extremen Einstellungen. Da spricht aber auch unser Gefühl, das oft genauso gegensätzlich und schwarz-weiss strukturiert ist. Wir mögen jemanden oder wir hassen ihn. Schon wenn mir jemand zuvorkommt beim Besetzen des Platzes in der U-Bahn, kann Hassgefühl in mir aufsteigen: völlig irrational, wenn auch dann nachher gedämpft, zurückgedrängt. Unsere ersten Gefühlsreaktionen sind eben so primitiv strukturiert: Freund – Feind, Liebe – Hass. Das muss man im Sinn haben, wenn man Jesu verstehen will. Man muss sie entsprechend differenzieren, wenn es auf die Praxis ankommt.

Wenn man betrachtet, wie die Worte Jesu in unserem Evangelientext der Reihe nach kommen, hat man den Eindruck, dass sie gegen Ende immer akzeptabler werden. Am Anfang das steht das extremste: „Liebet eure Feinde!". Das tönt unerträglich. Das zweite klingt schon etwas gemäßigter: „Gib dem, der dich bittet!" Und schließlich am gemäßigtsten, am vernünftigsten, das dritte: „Tu den anderen das, was du selbst möchtest, dass sie dir tun."

Aber es beginnt eben mit diesem ungeheuer extremen Wort. Es ist ein Donnerschlag in der Weltgeschichte, so etwas ist nicht gesagt worden vorher. Was ist damit gemeint? Dass wir Sympathie haben sollen mit denen, die uns ans Leder gehen? Dass wir alle Menschen in Liebe und Vereinigung umarmen sollen, weil doch alle irgendwie so gut sind? Und das vielleicht deswegen, weil wir uns nicht trauen, uns zu verteidigen? Das ist sicher nicht gemeint. Freund bleibt Freund und Feind bleibt Feind, und vor dem Feind verteidigt man sich, so gut man kann. Man hütet sich in jedem Falle. Was ist also gemeint?

Da fällt mir ein Wort ein, das der verstorbene Pater Tattenbach einmal aus Guatemala mitgebracht hat von einem dieser geschundenen Indios, der ihm sagte: „Ja freilich fahren sie mit uns Schlitten, aber so weit werden sie uns nicht unterkriegen, dass wir sie auch noch hassen; das soll ihnen nicht gelingen." Das ist gemeint. Dass man die Feinde sympathisch findet, dass man es wunderbar findet, dass sie einen hassen, das ist natürlich unmöglich oder krank. Aber dass man sich von ihnen nicht dazu pressen lässt, zu werden wie sie, nämlich auch zu hassen, auch zu schikanieren, darum geht es, das meint Jesus. Er will sagen: Wenn ihr seufzt unter ihnen, dann betet für sie. Dann verflucht sie nicht, sondern zeigt eure eigentliche Stärke in diesem Kampf, euere Unabhängigkeit von diesem Kampf und segnet sie. Dann, wenn einer in der Not zu dir kommt und braucht dich, dann sage nicht, ha, Freundchen, jetzt habe ich dich, sondern dann hilf ihm. Wer hat dann den Kampf gewonnen? Du.

Jesu Worte sind natürlich gesprochen vor allen Dingen in eine Zeit der Verfolgung seiner Jünger hinein. Deswegen heißt es auch: Liebet eure Feinde. Was er verlangt, ist eine Zumutung, eine ungeheure Zumutung. Aber es geht. Stephanus, der Märtyrer der ersten Zeit, hat es gekonnt, als man ihn mit Steinen zugeschüttet hat. Er dachte an das Beispiel Jesu und betete und fluchte nicht. Er betete: Vater, vergib ihnen – sie wissen nicht, was sie tun. Und seitdem viele andere. Es ist möglich. Es ist möglich, den Kreislauf von Hass und Hass, von Gewaltsamkeit und ganz berechtigter, wie es scheint, Gegengewaltsamkeit, von Krieg und Rache ein Ende zu setzen: den Schub der Gewalt sich amortisieren, auslaufen zu lassen. Es ist möglich. Und wer das kann, der hat die eigentliche Macht. Das ist die Macht Gottes in dieser Welt. Wer sich zu so etwas durchringt, der heisst dann Sohn Gottes oder Tochter Gottes. Denn da wird die göttliche Macht, die keine Panzermacht ist zum Drüberrollen, sondern die Macht der Liebe, die sich durch nichts irre machen lässt in dieser Welt, offenbar.

Eine menschliche Gesellschaft beruht auf dem Ausgleich von Interessen: Gibst du mir, geb‘ ich dir. Und zwar nur dann. Bekomme ich auf die Dauer nichts zurück, gebe ich auch nichts. Wird das Schlechte nicht bestraft, nimmt es überhand. Wird das Gute nicht belohnt, stirbt es ab. Und nach diesem Muster hangeln sich die menschlichen Gesellschaften durch die Zeit, schlecht und recht. Schlecht, weil es genug Leute gibt, die bei all diesen raffinierten Maßnahmen eines Staates mit seinen Gesetzen und Sanktionen doch durch die Lücken schlüpfen und profitieren und Gewalt ausüben, ohne bestraft zu werden. Da braucht es auf der andern Seite die, die freiwillig mehr tun. Der Mensch mag sagen: „Das kann man doch mir nicht zumuten, dass ich für meine Feinde auch noch bete!" Nein, das kann man Ihnen nicht zumuten. Aber Sie können es vielleicht sich zumuten; Sie muten sich doch auch den Namen Christi zu. Wenn Sie hinschauen, wie es er gemacht hat, und wenn Sie daran denken, dass das die Art Gottes ist, durch die allein wir Hoffnung haben können, durch die allein wir mitsamt unserer Schlechtigkeit und Halbherzigkeit Hoffnung haben können, weil Er so ist wie Er ist, – und wie wir, wenn wir wollen – schlecht und recht, aber doch ein Stück – auch sein können, sein dürfen.

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Gerd Haeffner SJ